Mit dem Nilbarsch wurde damals ein besonders wertvoller Speisefisch in den See eingesetzt. Als Victoriasee-Barsch wird er mittlerweile in alle Welt exportiert, die regionale Fischindustrie boomt und verschafft vielen Menschen eine sichere Arbeit. Sowohl die Fischer als auch die Arbeiter in den Fischfabriken konnten ihren Lebensstandard inzwischen deutlich verbessern. Was davon nun wahr ist? Leider lassen sich Gut und Böse, Recht und Unrecht, Fortschritt und Rückschritt bei derart komplexen Zusammenhängen kaum mehr eindeutig voneinander trennen. Ein allgemein gültiges Urteil verbietet sich auch schon wegen der beeindruckenden Ausmaße des Victoriasees: Er erstreckt sich über eine Fläche so groß wie das Bundesland Bayern, mit Kenia, Tansania und Uganda grenzt er an gleich drei Staaten. Seine fast 5.000 Kilometer langen Küstenlinien werden mittlerweile von 30 Millionen Menschen bewohnt – die natürlich längst nicht alle in vergleichbaren Verhältnissen leben. Sicher ist jedenfalls, dass der Victoriasee-Barsch eine einschneidende Veränderung im Leben der vielen Fischer herbeigeführt hat: Früher hatten sie die heimischen Arten vor allem für den eigenen Bedarf und für den Verkauf auf lokalen Märkten gefangen. Heute fangen sie Fische, die noch vor Ort verarbeitet und dann in alle Welt exportiert werden – so sind sie an eine globalisierte Wirtschaft angeschlossen. Die Frage, ob man dies nun begrüßen oder doch eher bedauern sollte, ist allerdings von ideologischer Natur.
Jetzt kommt es darauf an, mit den veränderten Bedingungen am Victoriasee verantwortlich umzugehen, sie als Grundlage für eine bessere Zukunft zu nutzen. Und tatsächlich gibt es vielversprechende Entwicklungen in diese Richtung. Einige davon sind in der tansanischen Regionalhauptstadt Musoma zu beobachten. Am frühen Nachmittag fahren die Fischer hier in ihren kleinen, bunt bemalten Holzbooten auf den See hinaus.
Fast die ganze Nacht verbringen sie auf dem Wasser, sie fischen mit Langleinen und Netzen – so, wie sie es schon seit Generationen tun. Doch einiges ist jetzt anders als früher. Die übernationale Victoriasee-Fischereiorganisation (LVFO) hat es sich zum Ziel gesetzt, die Bestände aller Arten im See langfristig stabil zu halten. Zu diesem Zweck vergibt sie Fanglizenzen und schreibt vor, dass die Maschen der Fischernetze mindestens 16,5 Zentimeter groß sein müssen. So wird sichergestellt, dass die Tiere erst gefangen werden, nachdem sie sich bereits fortpflanzen konnten. Am frühen Morgen kehren die Fischer wieder nach Musoma zurück. Während für sie endlich der verdiente Feierabend beginnt, starten die Angestellten der Fischfabriken jetzt in ihren Arbeitstag.
Die Tilley Group unterhält solche Betriebe in allen drei Anrainerstaaten des Victoriasees. Sie wurde vor rund 25 Jahren von der indischstämmigen Familie Jessa gegründet und ist mittlerweile ein Partner und Zulieferer von Deutsche See. Allein in ihrer größten Fabrik im ugandischen Entebbe haben 300 Menschen Arbeit gefunden. Sie waschen den frischen Fisch, nehmen ihn aus, entgräten, filetieren und trimmen ihn. Die Fabrik beliefert vor allem den europäischen Markt und erfüllt deshalb mit Unterstützung von Deutsche See-Mitarbeitern schon deren strenge Hygienestandards. Der Barsch ist zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor am Victoriasee geworden, er sichert viele tausende Arbeitsplätze, garantiert der Region gute und zuverlässige Einnahmen. Trotzdem gehören die einfachen Fischer noch nicht zu den ganz großen Gewinnern bei dem Geschäft mit dem Victoriasee-Barsch. Von den Gewinnen könnte noch ein deutlich größerer Anteil bei ihnen verbleiben, nach europäischen Maßstäben leben viele von ihnen weiterhin in Armut. Doch ihre Lebensbedingungen haben sich bereits heute deutlich verbessert – und viele weitere Verbesserungen können jetzt folgen.
Nur schwach und verschwommen zeichnet sich die flache Insel am Horizont ab. Ein starker Außenbordmotor beschleunigt das kleine Boot, das nach Lukuba übersetzt. Aus der Ferne können bereits die einfachen Häuser entdeckt werden. Am Strand liegen viele Fischerboote, einige motorisiert, andere mit Segeln oder Paddeln ausgestattet, auch ganz einfache Kanus und Einbäume sind dabei. Wenn es den Victoriasee-Barsch nicht gäbe, wäre die Insel vielleicht heute immer noch unbewohnt. Erst in den 1970er Jahren kamen Siedler, für Fischer boten sich plötzlich beste Bedingungen: Der wertvolle Raubfisch hatte das Gebiet um Lukuba als bevorzugten Laichgrund entdeckt.
So ist die 20 Kilometer nordwestlich der tansanischen Regionalhauptstadt Musoma gelegene Insel mittlerweile zur Heimat einer stattlichen Gemeinde von 5.700 Einwohnern geworden. Die Menschen leben hier unter Bedingungen, die nicht überall am Victoriasee selbstverständlich sind. Ein Arzt wohnt dauerhaft auf der Insel. Kinder haben es nicht allzu weit zur Grundschule, die sie sieben Jahre lang kostenlos besuchen können. Anders als in manchen Orten auf dem Festland ist es auch hier ganz selbstverständlich, dass Moslems und Christen auf Lukuba als Nachbarn Tür an Tür wohnen. Ihren bescheidenen Wohlstand verdanken die Insulaner vor allem dem Victoriasee-Barsch. Verglichen mit europäischen Standards führen sie allerdings immer noch ein sehr einfaches, hartes Leben. Deshalb bieten wir jetzt unsere Unterstützung an, um ein neues Hilfsprojekt zu starten: Wir engagieren uns für einen Kindergarten. Das Gebäude dafür sollen die Lukubaner selbst bauen, so wird auch die Inselwirtschaft angekurbelt.
Rund 80 Kinder können dann künftig betreut werden, bisher müssen sie noch von ihren Müttern mit aufs Feld genommen werden. Denn während die Männer täglich zum Fischen auf den See fahren, bauen die Frauen Obst und Gemüse an; Lukuba ist etwa so groß wie die Nordseeinsel Langeoog, hat also ausreichend Fläche – und sogar sehr fruchtbare Böden. Schwimmende Händler, die hier ein bis zwei Mal pro Woche anlegen, verkaufen vor allem Reis oder anderes Korn; ansonsten versorgen sich die Lukubaner weitgehend selbst. Auch aus diesem Grund bietet sich die Insel für eine engere Zusammenarbeit mit Deutsche See an: Es gibt eine gute grundlegende Infrastruktur, das Gebiet ist überschaubar. Was hier gelingt, kann dann später auf größere Gegenden übertragen werden. Doch erstmal gilt es, Vertrauen zu schaffen, Gespräche zu führen, den Weg zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit abzustecken.
Denn hier geht es eben nicht um eine von außen verordnete Entwicklungshilfe, sondern um Hilfe zur Selbsthilfe, um eine dauerhaft funktionierende, wirtschaftliche Kooperation. So etwas setzt voraus, dass sich beide Seiten zunächst gleichberechtigt verständigen. Aus diesem Grund trifft sich Heiko Frisch heute mit Vertretern der Regionalregierung aus Musoma, mit Managern des regionalen Deutsche See-Partnerunternehmens Tilley Group und mit dem lukubanischen Dorfvorsteher. „Es kann nur funktionieren, wenn wir die Leute vor Ort mit ins Boot holen – und das Projekt weiterhin sehr eng begleiten“, sagt Frisch, der die Region um den Victoriasee mehrmals jährlich für Deutsche See bereist. Längst hat er schon eine Liste weiterer sinnvoller Maßnahmen aufgestellt, vor allem geht es ihm ums Thema Bildung. Nur mit entsprechendem Wissen werden die Menschen auf Lukuba stärker Verantwortung übernehmen, ihre eigene Zukunft gestalten können. So soll die bereits bestehende Grundschule besser ausgestattet werden.
Ein Schulboot-Shuttle würde es den Jugendlichen außerdem ermöglichen, weiterführende Schulen auf dem Festland zu besuchen. Auch die erwachsenen Insulaner bringt Bildung weiter: Durch landwirtschaftliche Schulungen können sie lernen, ihre Böden ertragreicher zu nutzen. Medizinische Aufklärung kann endlich die Verbreitung von Krankheiten wie HIV eindämmen. Und mit Schwimmkursen lässt sich vermeiden, dass immer wieder Fischer bei ihrer Arbeit ertrinken. Mittelfristig geht es also auch darum, die Fischer stärker am Gewinn zu beteiligen. Mit höheren Einnahmen lassen sich dann sogar weitere Bauprojekte bezahlen, auf der Insel könnten ein Brunnen und ein Kühlhaus entstehen.